SEHNSUCHT NACH NEANDERTAL (2025)

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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Unter ihrem Schwesternrock war sie vollkommen nackt ... Ein Dutzend Hände betasteten ihren Leib ... Seit fünf Jahren wurde diese Frau laufend vergewaltigt ...

Das sind die geläufigen Angebote ans schwüle Zeitbewußtsein, mit denen heute überall Auflagen hochgekitzelt werden. Genaugenommen sind es auch nicht Zitate aus Kosinski, sondern Zwischentitel aus »Konkret«, das fünf Kosinski-Geschichten abdruckte. Und ganz genau genommen steht selbst in der deutschen Buchausgabe kein Text von Kosinski, sondern eine Übersetzung von Matthias Büttner, und über den darf man mit Fug und Recht und mit Karl Kraus sagen: Er hat aus dem Englischen in eine Sprache übersetzt, die er ebenfalls nicht beherrscht.

Wer also ist Jerzy Kosinski? Sicher nicht der glatte Arrangeur von Sex- and-Crime-Effekten, als den »Konkret« ihn verkauft hat. Sicher auch nicht ein von Visionen geplagter Heideschulmeister. obwohl er in Büttners mühsamem Aufsatzdeutsch etwa so aussieht. Doch beide Verfälschungen haben diesen Autor nur zur Kenntlichkeit entstellt. Da wühlt tatsächlich, auch im amerikanischen Original, sich jemand steif und würdig in sogenannte menschliche Abgründe: ein Dichter, ein effektbewußter Schmerzensmann und melancholischer Schausteller.

In Kosinskis locker zusammengefügter Geschichtenserie kommen reale Hintergründe nur andeutungsweise vor, als fahle Kulissen. Er hat keine Geduld für Wirklichkeit, er bildhauert Exempel. Seine Lieblingssituation ist der Ausnahmezustand: »Gerüchte wurden laut, daß ein gewisses Land kurz vor der Revolution stünde«, das ist ein Mustersatz. Nur namenlose Personen treten auf, ein Bauer, ein Mädchen oder ein Arbeitgeber. Erzählt wird nichts Bestimmtes, sondern immer nur das Wesentliche.

Und das in einer Prosa, auf die ein altes Rezensentenwort paßt: gebändigt. Kein Wimperzucken, radikal humorlos, auf Schritt und Tritt symbolisch. Denn ob von Schnee die Rede ist, von Kreditkarten oder einer Taubstummheit -- nichts ist wörtlich und konkret zu nehmen, alles ist inszeniert, aus leder Einzelheit kann ihre Bedeutung mit Löffeln gefressen werden. Mit einem Wort: Dichtung, in schwerem Faltenwurf, gleichmäßig schwarzgrau eingefärbt, streng und säuerlich riechend.

Man muß die Stationen von Kosinskis Leben ernst nehmen, um zu verstehen, was ihn zum Dichter hat aufsteigen und verkommen lassen. Geboren wurde er 1933 in Polen. Der deutsche Besatzungsterror, der dumpfe Druck der stalinistischen Bürokratie prägten traumatische Erfahrungen, aus denen monoton offenbar nur eine einzige Lebensregel zu lesen war: das Recht des Stärkeren aufs Überleben.

1957 kommt er in die USA, ohne Mittel und Hilfe, wieder vogelfrei. Er tritt ein in eine Sprache, die er lernen wird, aber wie etwas Fremdes, in der er rhetorisch jede Art Hitze oder Kälte herstellen kann, nur keinerlei Wärme der Sinnlichkeit. Diese beherrschte Fremdsprache wird das ideale Gerüst für den Aufbau schwermütiger Artefakte.

Schließlich, die dritte Stufe, die Krönung oder Erlösung: Kosinski steigt auf in der Hierarchie der Literatur-Departments an amerikanischen Universitäten, wo die Kunstgriffe und Bedeutungen moderner Literatur durchgepaukt werden, und lehrt heute in Princeton. Kein Wunder, daß sich sein Buch wie eine Musterfibel moderner Schreibweisen ausnimmt, wie sie zwischen 1920 und 1950 im Schwange waren.

Da wird, auch das sozusagen vorbildlich, vor keiner Gewagtheit zurückgeschreckt. Die Innenwelt einer unaufgelösten Pubertät breitet sich in säuberlichem Wortlaut aus, Träume vor allem von einer kalt die ganze Welt unterjochenden Potenz. Denn Sex und Macht sind hier nur Wort für einunddasselbe Bedürfnis. Alle Frauen werden gesehen und eingesetzt als bloße Objekte. Aber jede sinkt schließlich hintüber vor dem düsteren Protagonisten, dem Fliegenden Holländer dieses Buches.

Tritt man drei Schritte zurück, gestattet man sich den Humor, den sich der vom polnischen Trauma geschundene, in den USA zum Kunstwerkhersteller promovierte Kosinski verbeißen muß, dann ist die Komik dieser fünfzehnjährigen Verruchtheit kaum noch zu übersehen. Die Opfer dieses sexuellen Machiavelli sind tatsächlich die Objekte früher Wachträume: eine Unschuld vom Lande kommt genauso vor wie die tuberkulöse Dame, eine Zirkusartistin, die kalte Büroangestellte und natürlich auch eine Krankenschwester.

Stoff eigentlich für einen erotischen Jules Verne, einen Abenteuerroman, der frei durch die Gruselkeller früher Cesare-Borgia- oder Dschingis-Khan-Phantasien schweift. Doch so billig und human verkauft sich ein Dichter nicht. Seine Geschichtenserie dient, sagt Kosinski in einem das eigene Werk raunend, mit Kronzeugen von Sophokles bis Sade und Jung, deutenden Essay: der Findung des Selbst,

Ich fürchte, dieser Fall von Dichtersein in dürftiger Zeit liegt banaler und ist gefährlicher. Die feierliche Aufbereitung des eher komischen Stoffes hat ihre Konsequenzen. In Kosinskis Sex-and-Crime-Welt können Leser, die sich heute zu Recht gedemütigt und geschrumpft zu Gartenzwergen vorkommen, ihren inneren Herrenmenschen wiederentdecken. Das Buch ist eine schöne Geisterbahn für autoritäre Charaktere, ein Test geradezu aufs psychologische Potential des Faschismus.

Als der Erzähler wieder einmal durch »ein Viertel« geht (aber wir dürfen ruhig einsetzen: Harlem), »beneidet« er alle, »die hier lebten und so frei erschienen, weil sie nichts zu bereuen und nichts zu erwarten hatten. In der Welt der Geburtsurkunden ... waren sie unabhängig, lebte jeder von ihnen nur seinem eigenen Bild«. So wird auch ein Slum zur Kulisse, zum Symbol, hier für eine melancholische Sehnsucht nach dem Neandertal. Solches Dichtertum geht auf seinem Weg nach innen wahrlich über Leichen.

Doch von den Schutzumschlägen blickt Kosinski aus einem sympathischen, todtraurigen Raubvogelgesicht. Dichter sind unschuldig. Aber sie stiften neuerdings nicht mehr, was bleibet, sondern Unfug.

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Author: Dong Thiel

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Name: Dong Thiel

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